Ein zutiefst bewegendes Werk über Gewalt, Emanzipation und weibliche Solidarität. Erfahrt in meiner Rezension, warum mich dieses Buch sehr sauer gemacht hat, aber auch mit einem optimistischen Gefühl hinterlassen hat.
Inhalt
Die junge Schwarze Celie wächst Anfang des 20. Jahrhunderts in Georgia auf. Während ihre Mutter im Sterben liegt, wird sie mit vierzehn zum ersten Mal von ihrem Vater vergewaltigt und in den Folgejahren zweimal schwanger. Er gibt die Kinder weg, sie weiß nicht, ob sie noch leben oder tot sind. Als sie in die Ehe mit einem Mann gezwungen wird, der sie schlägt, wendet sich Celie in verzweifelten Briefen an Gott, da sie keinen anderen Ausweg mehr weiß.
Erst als ihr Mann seine Geliebte Shug Avery ins Haus holt, verbessert sich Celies Situation. Sie verliebt sich in Shug und lernt von ihr, dass echte Liebe nichts mit Gewalt zu tun hat. Durch Shugs Liebe und die Freundschaft weiterer Frauen geht Celie endlich gegen alle Widerstände ihren Weg.
Quelle: Harper Audio
Meine Meinung
„Du musst den Mann aus deinen Augen verscheuchen, bevor du überhaupt was sehen kannst“ – dieser Satz steht exemplarisch für die Reise, die Celie, die Hauptfigur von Alice Walkers Briefroman “Die Farbe Lila“, antritt. Es ist eine Reise von Schmerz und Ohnmacht hin zu Selbstbestimmung und innerer Stärke. Walker erzählt in kraftvoller, schlichter Sprache von einer Frau, die viel zu früh erwachsen werden muss und sich gegen alle Widerstände ihren eigenen Platz in einer feindseligen Welt erkämpft.
Ein Roman der weh tut
Der Roman ist ein Schlag in die Magengrube. Schon die ersten Seiten sind schwer zu ertragen: Celie, gerade 14 Jahre alt, wird vom eigenen Vater missbraucht, ausgebeutet, verschachert. Der Ton, den dieser Anfang setzt, ist brutal ehrlich und zeigt ungeschönt, welchen Platz eine schwarze Frau in den Südstaaten der USA im frühen 20. Jahrhundert einnimmt – nämlich ganz unten. Von einem Leben bestimmt durch Gewalt, Rassismus, Sexismus und Armut. Und trotzdem bleibt da eine Naivität, eine Offenheit und eine Sanftheit in Celies Blick auf die Welt, die einen nicht loslässt.
Celies Wesen
Celies Sprache ist einfach, fast klaglos. Sie beschreibt ihre Schwangerschaft zum Beispiel nur als „Ich bin dick“. Ohne Schuldzuweisung, ohne Urteil – fast, als wäre es das Normalste der Welt, missbraucht und benutzt zu werden. Lange lebt Celie ein fremdgesteuertes Leben. Erst unter der Gewalt ihres Vaters, dann in einer Zwangsehe mit einem Mann, der sie wie eine Dienstmagd behandelt. Celie geht nicht auf das Unrecht das ihr widerfährt ein. Sie wiederholt die abwertenden Worte, die Männer ihr an den Kopf werfen: dünn, hässlich, wertlos. Ihre Klaglosigkeit, ihre Genügsamkeit, ihre Sanftheit – Begriffe, die in anderen Kontexten vielleicht positiv konnotiert wären – stehen hier als Sinnbild für ein Leben voller Misshandlung und Entmenschlichung.
Doch Celie bleibt nicht stehen. Sie macht eine Entwicklung durch – und diese beginnt mit ihrer Bewunderung für die temperamentvolle Sängerin Shug Avery. Aus dieser Bewunderung wird Liebe, aus Liebe Freundschaft. Shug ist laut, eigensinnig, unabhängig. Auch für sie ist das Leben nicht einfach, aber sie nimmt sich, was sie will, und gibt sich selbst, was sie verdient. Sie ist Celies Tür zu einer anderen Welt – zu einer, in der Frauen sich nicht mehr unterordnen, sondern ihre Stimme finden. Und mit ihr verändert sich auch Celies Ton: Er wird klarer, selbstbewusster. Sie lernt, dass sie nicht alles hinnehmen muss. Und dass sie für sich selbst einstehen darf.
Nettie am anderen Ende der Welt
Neben Celie steht ihre Schwester Nettie, die – ebenfalls vom Vater unterdrückt – flieht und schließlich als Missionarin nach Afrika reist. Auch hier erzählt Walker in einem Ton der völlige Normalität vorgibt zu sein. Die Missionarsarbeit ist ein zutiefst übergriffiges, koloniales Konstrukt: (oft weiße) Christen, die meinen, fremden Menschen ihre Werte aufzudrängen. Nettie kommt mit besten Absichten und Aussicht auf ein besseres Leben, doch erkennt sie im Laufe der Handlung, dass Männer und Kapitalismus auch am anderen Ende der Welt nicht halt machen. Netties Reise ist eine Flucht aus der Gewalt und eine andere Form des Erwachens. Sie erlebt das Leben in einer afrikanischen Dorfgemeinschaft – ebenfalls geprägt von männlicher Vorherrschaft, polygamen Strukturen und dem Ausschluss von Mädchen aus Bildung. Es drängt sich die bittere Erkenntnis auf: War und ist es auf der ganzen Welt so, dass Frauen unterdrückt wurden und werden?
Männerrollen
Walkers Männerfiguren spiegeln dieses patriarchale System deutlich wider. Die meisten von ihnen sind geprägt von Missbrauch und Gewalt, lernen von klein auf, dass Frauen ihnen untergeordnet sind. Sie reproduzieren aktiv die Machtstrukturen, in denen sie selbst aufgewachsen sind. Doch spannend ist: Je emanzipierter die Frauen werden, desto mehr bröckeln auch die Männerrollen – und man erkennt: Auch Männer sind Gefangene dieser Strukturen. Emanzipation ist kein Kampf gegen sie, sondern eine Chance für alle, sich von Rollenbildern, Erwartungen und Druck zu befreien.
Solidarität
“Die Farbe Lila” ist ein feministisches Werk durch und durch. Und es ist ein Buch, das nicht nur vom Leid erzählt, sondern vor allem von Solidarität. Von Frauen, die sich gegenseitig aufrichten. Celie, Shug, Nettie, aber auch Sofia – die starke, unbeugsame Frau, die einen hohen Preis dafür zahlt, dass sie sich wehrt – sie alle geben ganz unterschiedliche Einblicke in das Leben schwarzer Frauen in den USA der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und sie alle zeigen: Es gibt nicht die eine Art, Frau zu sein. Aber es gibt einen gemeinsamen Nenner – den Mut, die eigenen Grenzen zu verteidigen und füreinander einzustehen.
Ich habe das Hörbuch in der neuen, diskriminierungssensiblen – so der Verlag – Übersetzung gehört. Eine Referenz zur Originalübersetzung habe ich nicht, aber die Sprache hat mich sehr berührt – sie ist nahbar, klar, verletzlich und stark zugleich.
Fazit
“Die Farbe Lila” ist ein Meisterwerk der feministischen Literatur – geschrieben von einer schwarzen Autorin aus dem amerikanischen Süden, mit Figuren, die so vielschichtig und echt sind, dass sie einem lange nachgehen. Es ist ein Buch über Schmerz und Gewalt, ja. Aber auch über Freundschaft, Liebe, Emanzipation – und über Frauen, die sich wahrhaftig verbünden. Ich ringe mit Worten wie „mutig“, „badass“, „Macherin“, weil sie oft klischeehaft wirken – aber wenn sie jemals verdient sind, dann für die Frauen in diesem Buch.
Zum Schluss möchte ich erwähnen: Über Alice Walker gibt es Berichte, dass sie in späteren Jahren Aussagen getätigt hat, die in Richtung Verschwörungsmythen deuten. Für diese Rezension habe ich mich bewusst nur mit dem literarischen Werk “Die Farbe Lila” auseinandergesetzt – und dieses empfinde ich als absolut wertvoll und lesenswert.
Für mich ist dieses Buch ein Auftakt, mich noch mehr mit anderen Perspektiven und diversen Blickwinkeln zu beschäftigen. Und ein Appell, nie aufzuhören, für eine gerechtere, gleichberechtigtere Welt einzustehen.
Einblick in die Hörbuchproduktion von Bayern2
Buchdetails:
“Die Farbe Lila” von Alice Walker
Harper Audio – 24.06.2022 (im Original erschienen 1982 The Color Purple)
Hörbuch ab 9,99€
Hinweise
Rezension: ©alienicious 2025
Das rezensierte Buch habe ich selber erworben.
Eine Übersicht meiner Rezensionen findet ihr hier. 🕮